Ich bin weder Kunstexperte, noch Indologe, sondern maximal
ein Journalist, der an Kunst und anderen Kulturen interessiert ist.
Journalisten werden also leicht als Experten für eh alles gesehen.
Dabei haben sich Journalisten einen zweifelhaften Ruf erworben.
Beispiele gefällig? Anton Kuh: Sie wissen nicht, wo Gott wohnt,
aber haben ihn alle schon interviewt. Gilbert Keith Chesterton:
Journalismus dreht sich darum anderen zu sagen Lord Jones
ist gestorben, und zwar jenen Leuten, die gar nicht wussten,
dass Lord Jones je gelebt hat. Was sie heute von mir hören,
sind die Gedanken eines philosophischen Amateurs,
also eines Liebhabers. Das was ich ihnen heute erzähle, will ich
vorab als subjektiven Zugang und Eindruck ausweisen,
weil ich nicht vor dem großen Anspruch des Objektiven, des immer
Ungesagt Bleibenden zwangsläufig in die Knie gehen will.
Im Zuge der diesjährigen Ausstellung Das
Indien der Maharadschas auf der Schallaburg wurde GapStarPro eingeladen,
Interventionen im Außenraum der Anlage durchzuführen. Diese
konzentrieren sich auf den Garten als Ort der Muse und als
Zwischen-Raum für Begegnungen mit einer zeitlosen Zeit.
GapStarPro, so nennt sich das Künstlerpaar Rudolf Macher und
Susen Okotie. Der Niederösterreicher Rudolf Macher ist bildender
Künstler und Vater der Tatraphysik. Susen Okotie ist Fotografin,
Schriftstellerin und TransBody-Trainerin. GapStarPro konzentrieren sich
auf Kunst im Internationalen Format und arbeitet mit Objekten, Bilder,
Texten, Medien und Installationen. Ihr Kunstbegriff ist geprägt von
einem Prozess, der den Austausch kultureller Zeichen über lange Zeiträume
thematisiert. Gap steht für den Zwischenraum, das Visionäre,
beziehungsweise auch das zu einer bestimmten Zeit Unmögliche, das
Utopische, den (noch) Nicht-Ort, wie das Utopische auf Griechisch
übersetzt heißt. Das Künstler-paar will Ereignisse und
Prozesse sichtbar machen, die sich dem alltäglichen Blick und der
Wahrnehmung entziehen und im Zwischen-Raum verborgen bleiben.
GapStarPro sind also Schatzsucher, die mittels dekonstruktiver Strategien
der Verfremdung, Überlagerung und Verschiebung den Blick Schwellenräume
ausfindig machen und auszeichnen. Sie fungieren als Archäologen der
Kunst. Sie wirken als artistischer Pontifex, als Brückenbauer
zwischen der sinnlichen und der geistigen Welt, um den transzendenten
Charakter von Objekten und Prozessen aufleuchten zu lassen. Ganz in der
Tradition der Kärntner Dichterin Ingeborg Bachmann, die einmal geschrieben
hat: Es gibt in der Kunst keinen Fortschritt in der Horizontale,
sondern nur das immer neue Aufreißen einer Vertikale. Nur die Mittel
und Techniken in der Kunst machen den Eindruck, es handelte sich um Fortschritt.
Was aber möglich ist, in der Tat, ist Veränderung. Und die verändernde
Wirkung, die von neuen Werken ausgeht, erzieht uns zu neuer Wahrnehmung,
neuem Gefühl und neuem Bewusstsein1. Zitat Ende.
So schrieb sie an anderer Stelle: Kunst ist dazu da, dass uns die
Augen aufgehen.
Was sie hier als künstlerische Begleitausstellung unter dem Namen
1200 göttliche Jahre im Rahmen des diesjährigen
Schallaburg-Schwerpunktes Das Indien der Maharadschas sehen,
das entschlüsselt sich nicht auf den ersten Blick. Um es zu verstehen
müssen wir eine phänomenologische Haltung einnehmen und die
Frage stellen: Was zeigt sich da? Phänomenologie ist die Wesensschau.
Das Wesen einer Sache ist aber nicht so einfach erfassbardurch den subjektiven
Eindruck, weil die Auslegung des Geschauten von den eigenen Vorstellungen,
Vorannahmen und Konzepten geprägt und überlagert ist. Das Phänomen
erschließt sich erst, wenn man diese eigenen Bilder zurückhält,
sie einklammert. Das Wort Phänomen kommt vom griechischen
Verb phainestai. Es heisst erscheinen und zwar
im Sinne von von sich selbst her zeigen. Wesensschau ist also
eine beständige Schule der Wahrnehmung.
Was also zeigt sich von sich selbst her?
Was wir zunächst sehen, ist ein etwa 50 Meter langer, im Mittelgang
des Burggartens mittels Schablonen und Malerspritzen aufgetragener Schriftzug.
Er ist Himmelblau und in einer uns fremden Schrift und Sprache abgefasst.
Die Schriftzeichen sind auf den Kies aufgetragen. Kies ist ein Untergrund,
der,wenn man auf ihm geht, immer leicht nachgibt und sich durch Druck
in seiner Lage und Form verändert. Der Schriftzug ist nicht n Stein
gemeisselt, sondern offensichtlich nicht dazu gemacht, eine längere
Zeit zu überdauern. Wenn man auf ihm herumgeht und das ist unvermeidbar,
wird er schon morgen anfangen, zu verblassen um dann ganz zu vergehen.
Was hat es nun mit der Schrift auf sich? Schrift ist ein Medium, das einen
Bedeutungsgehalt hat und einen Verweisungszusammenhang. Da vermutlich
die wenigsten von uns Hindi sprechen, können wir die Bedeutung der
Schrift nicht erkennen. Allenfalls ihren Verweisungszusammenhang. Schrift
gibt es, weil wir Sprache haben, weil wir sprachliche Wesen sind. Die
Sprache ist das Haus des Seins sagt der phänomenologische Existenzphilosoph
Martin Heidegger. Und unsere jüdisch-christlich abendländische
Tradition beginnt in einem ihrer Gründungstexte, dem Johannesevangelium
(Joh 1,1ff.) mit den Worten En Arché en ò Logos
Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.
Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne
das Wort wurde nichts, was geworden ist. Wort ist allerdings hier
weit mehr als Sprache und Schrift. Wort Logos im griechischen
und dabar im hebräischen, meint den Ereigniszusammenhang
von Wort, Geist, Tat und Sinn.Diese Bedeutungstiefe müssen wir mithören,
wenn gesagt wird: Im Anfang war das Wort. Doch sie sehen: So leicht kann
man vom Phänomen die Bedeutung überspringen und beim Verweisungszusammenhang
landen. Wir müssen also wie oben schon angemahnt, zurück zur
Sache, zurück zur Schrift der Sprache. Und was wir sehen ist eine
fremde Schrift, ein uns unbekannter Text. Schrift spricht erst zu uns,
wenn wir sie entziffern und ihre geistige Bedeutung einordnen können.
Das können die wenigsten unter uns, weil wir einem anderen als dem
indischen Kulturraum angehören. Dazu bräuchte es zumindest eines
Indologen oder Künstler wie GapStarPro, die um die Bedeutung der
Schrift wissen. Was wir sehen muss also gedeutet werden. Der Schriftzug
ist in Hindi und besagt Jaise Jaise Samay beetata jata hai.
Übersetzt heisst er So wie die Zeit vergeht.
Jetzt wissen wir also ein bisschen mehr. Es geht um
die Zeit genauer gesagt um die vergängliche Zeit, die Zeit
die uns als Möglichkeit gegeben ist, bis zu unserem Tod, weil wir
Sterbliche sind. Zeit ist das verbindende Element der sechsteiligen
Arbeit von GapStarPro. 1200 göttliche Jahre handelt vom
Wesen einer Welt, die sich bruchstückhaft in die unaufhaltsam voranschreitende
Zeit einschreibt und durch sie hindurchwirkt, scheibt Susen Okotie
selbst darüber. Wenn die Kunst Zeit und Vergänglichkeit thematisiert,
dann schwingen zumeist zwei zugrundeliegende Emotionen mit. Entweder das
Leiden an der Bruchstückhaftigkeit unserer zeitlichen Existenz oder
der Aufschrei und Protest gegen sie. Im Leiden und im Protest liegt wiederum
etwas ungesagt Bleibendes, etwas abwesend Anwesendes, nämlich der
künstlerische Sinn für das Unendliche, die Suche nach etwas
dauerhaft Bleibenden, was sich dem Vergänglichen entzieht. Doch dazu
später mehr.
Was hat es nun mit den 1200 göttlichen Jahren auf sich? Hier verlassen
wir die Phänomenologie wieder und wenden uns der Hermeneutik zu.
Das erfordert einen kleinen Exkurs in die Welt der Indischen Religion
und Kosmologie. Vielleicht kennen sie das Bonmot von Mark Twain über
Indien, das in seinem 1897 erschienen Buch Dem Äquator nach
zu lesen ist2: Indien besitzt zwei Millionen Götter und verehrt
sie alle. In religiöser Hinsicht sind alle anderen Länder Bettler
Indien ist der Millionär. Wer heute nach Indien geht,
wird vermutlich einen ähnlichen Eindruck haben wie Mark Twain vor
100 Jahren. Es begegnet einem ein Pantheon an Göttern. An jeder Straßenecke
ein kleiner Schrein oder Tempel, in dem zahlreiche bunte Göttergestalten
verehrt werden. Auch die Kunst in Indien ist vor allem religiöse
Kunst. Diese Eindrücke haben auch die ersten westlichen Indologen
und Religionswissen-schaftler dazu veranlasst, vom Hinduismus als einer
polytheistischen Religion zu sprechen. Doch der Schein trügt. Die
Göttervielfalt ist je nach individueller Hindutradition
eine Manifestation des einen höchsten persönlichen Gottes Ishvara
oder Purusha oder
aber auch der unpersönlichen Weltseele, des Brahman.
Hinduistische Lehren betrachten den Kosmos als geordnetes Ganzes. Der
Kosmos als Ganzes wird vom Dharma, dem Weltgesetz, beherrscht, das die
natürliche und sittliche Ordnung darstellt. Der Hinduismus entstand
vermutlich genau können das die Historiker nicht datieren
etwa 2000 Jahre vor Christus. Er ist eine Verschmelzung von mehreren
verschiedenen religiösen Systemen: den altindischen Religionen und
der Religion der vermutlich aus dem Norden eingewanderten Arier. Deshalb
sprechen Indologen heute von Hindu-Traditionen, weil deren Hauptcharakteristikum
Einheit in der Vielfalt ist. Die ältesten Quelltexte
der Hindu-Traditionen sind die Indischen Veden. Das Wort Veda bedeutet
"Wissen". Gemeint ist hiermit kein Faktenwissen, sondern göttliches
oder spirituelles Wissen. Die Veden sind eine Sammlung von Schriften,
die Jahrhunderte vor der Verschriftlichung mündlich überliefert
wurden. Das kontinuierliche Auswendiglernen der Veden gilt in Indien als
einer der möglichen Wege zur Erlösung. Auf das spirituelle Wissen
der Veden gehen auch die bei uns bekannt gewordenen Begriffe wie Yoga,
Dharma, Karma, Atman, Brahman zurück. Auch das indische Heilkundewissen
Ayurveda entstammt wie der Name schon sagt - den Veden.
Durch das in den letzten 200 Jahren erwachte rege Interesse an Indien
ist im Westen auch das kosmologische Wissen der Veden bekannt geworden,
auch in den Kreisen der wissenschaftlichen Astronomie. Zu den Grundlagen
des vedischen Mysterienwissens gehörte die Erkenntnis, dass der Kosmos
multidimensional ist. Diese uralte Erkenntnis wird von der modernen westlichen
Physik erst seit dem 20.Jahrhundert diskutiert. Und er entzündet
sich an der Frage, ob das Universum endlich oder unendlich ist. In ihrem
2007 erschienen Buch Endless Universe Beyond the Big Bang
schreiben die Physiker Paul Steinhardt von der Princeton University und
Neil Turok von der University of Camebridge Zitat:Die alte
Hindu-Kosmologie enthält eine bemerkenswert detaillierte und quantifizierte
Sicht einer zyklischen Evolution. Sie beschreibt gesamthaft Zyklen innerhalb
von Zyklen innerhalb von Zyklen, wobei die Zyklen auf jeder Ebene eine
unterschiedliche Dauer haben. Diese Ebenen entsprechen verschiedenen Zeitabschnitten
in der Lebensspanne des Brahma, des Schöpfergottes. So entspricht
eine Art von Zyklus einem Tag und einer Nacht in Brahmas Leben, eine andere
einem Jahr,
wieder eine andere einhundert Jahren, usw. Wenn wir diese Zyklen auf Erdenjahre
umrechnen, sind einige von ihnen überraschend ähnlich wie jene
Zeitangaben, die in der zeitgenössischen Astronomie von Interesse
sind. Ein Tag und eine Nacht im Leben Brahmas dauern ein kalpa,
eine Zeitperiode von 8,64 Milliarden Jahre, was ungefähr der Dauer
entspricht, die von der modernen Kosmologie für die von Materie dominierte
Epoche angesetzt wird, in der sich die Galaxien formten.3
Zitat Ende.
Wir sind nun der Entschlüsselung des rätselhaften
Titels der Kunstausstellung 1200 göttliche Jahre ein
großes Stück näher gekommen. Zeit, wie sie
die vedischen Weisen verstehen, verläuft in einem Ablauf von verschachtelten
Zyklen und Unterzyklen, so wie wir innerhalb eines Jahres 12 Monate haben,
die wiederum in Unterzyklen von Wochen, Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden
aufgeteilt sind. Die vedische Kosmologie kennt vier Zeitalter, sogenannte
Yugas. Diese vier Yuga-Zyklen wiederholen sich zyklisch. Satya-Yuga, Tretâ-Yuga,
Dvaparâ-Yuga sind die ersten drei Zeitalter. Gegenwärtig leben
wir im vierten Yuga-Zyklus, der nach indischer Auffassung insgesamt 432.000
Jahre dauert. Dieses Kali-Yuga begann vor rund 5000 Jahren. Bedeutet dies,
dass es noch weitere 427.000 Jahre dauert? Nein. Denn das dunkle oder
eiserne Zeitalter unserer Gegenwart ist der kürzeste
Unterzyklus des vierten Kali-Yugas und sollte nicht mit dem gesamten vierten
Yuga gleichgesetzt werden4.
Die Yugas sind aber nicht nur irdische Zyklen. Sie laufen
synchron ab mit galaktischen Zyklen - im Sanskrit Manvantaras
genannt und den höherdimensionalen Zeitschemen unseres Universums,
den sogenannten Brahma-Tagen. Die Yugas sind also die großen
Zeitrahmen, innerhalb deren die vielen irdischen Unterzyklen ablaufen.5
Und dieser Unterzyklus des dunklen Zeitalters das Kali-Yuga
im wörtlichen Sinn ist bald vorbei. Wir leben also
nach vedischer Zeitrechnung - in einer Zeitenwende eines Unterzyklus,
in einem Zwischenraum. Einerseits sind wir noch von einer eisernen Zeit
gefangen, anderseits kündigt sich schon eine andere Zeit an, die
erst von uns geboren werden muss. In diesem Schon und noch
nicht befinden wir uns in einem Schwellenraum. Langsam wird deutlicher,
was die von GapStarPro auf den Boden gemalte Hindi-Schrift So wie
die Zeit vergeht sagen kann. Sie vergeht im Gehen. Doch von welcher
Art ist die Zeit, die vergeht? Was heißt überhaupt Zeit und
Zeitlichkeit? Und wie verhält es sich mit Sein und Zeit?
Bevor wir diese Gedanken weiterführen, lassen wir zuerst wieder die
Zeichen der Kunst sprechen:
Falls Sie den steilen Weg zur Schallaburg hinaufgegangen sind, sind ihnen
möglicherweise Acht Stelen aufgefallen. Die Stelen sind mit Zahlen
und Zeichen beschriftet, die zunächst befremdlich vorkommen. Sie
wirken wie Mantren und erscheinen je nach Sonnenstand in einem andersfarbigen
Licht. Wovon erzählen diese Stelen? Als von der Zeit getriebene verweilen
die meisten nicht gerne bei Objekten, die sich ihnen nicht auf den ersten
Blick erschließen. Auch hier entschlüsselt sich das künstlerische
Phänomen erst in einem hermeneutischen Zirkel. Rudolf Macher und
Susen Okotie sind auf ihren Indienreisen auf die Schriften des berühmten
indischen Mathematikers und Astronomen Aryabatha gestoßen. Er lebte
476 bis 550 nach Christus. Aryabatha ist als Mathematiker
deshalb so bedeutend, weil die Zahl 0 auf ihn zurückgeht,
eine Zahl, die wie ein elliptisches Ei auch Symbol für das Unendliche
ist. Es waren die Araber, die Aryabathas Schriften übersetzten und
nach Europa brachten. Ohne Aryabhata gäbe es vermutlich unser Dezimalsystem
nicht, eine Säule der Mathematik. Er konnte Quadratwurzeln und Kubikwurzeln
ziehen sowie verschiedene lineare und quadratische Gleichungen lösen.
Auch die Trigonometrie entwickelte er weiter. Aryabhata bestimmte die
Kreiszahl Pi für damalige Verhältnisse sehr genau, nämlich
auf 3,1416. Auf den Aryabhata-Stelen von Rudolf Macher und Susen Okotie
sind
die ersten 1.000 Stellen dieser geheimnisvollen, unendlichen Zahl angeführt.
Auch hier wieder ein künstlerischer Hinweis auf das Unendliche.
Im Burggarten ist auch eine Klanginstallation zu hören, die der Sound-Künstler
Norbert Math geschaffen hat. Formal ähnelt sie im Aufbau einer klassischen
indischen Raga, die im Wesentlichen auf der Beziehung zweier Grundtöne
beruht. Sie hören dabei Klangpartikel von der ersten Indien Reise
von GapStarPro aus dem Jahr 2009 und dazu wird der Aryabhata Code rezitiert.
Dieses Zahlensystem bildet das Herzstück des Astronomischen Werks
des indischen Mathematikers. Aryabhata fand für Sonne, Mond
und die damals bekannten Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn)
Zahlenwerte, die eine genaue Berechnung ihrer Positionen ermöglichten.
Aryabhata lehrte aber auch schon, dass sich die Erde einmal täglich
um ihre eigene Achse dreht. Einige Zahlenwerte lassen vermuten, dass er
ein dahinterliegendes heliozentrisches System schon vermutete. Wie viele
Astronomen in Griechenland, Mesopotamien und China war auch Aryabhata
überzeugt davon, dass die Perioden der 7 klassischen Planeten (Sonne,
Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn) miteinander kommensurabel
sind. Er glaubte also, dass es ein gemeinsames Vielfaches der Planeten-Perioden
geben muss. Dann müssen sich aber von Zeit zu Zeit alle Planeten
am gleichen Punkt der Ekliptik versammeln. Aryabhata hatte berechnet,
dass eine solche Große Konjunktion am 17./18. Februar
3102 v. Chr. im Sternbild Aries stattfand. Dies setzte Aryabhata mit dem
Beginn des Kali-Yuga-Zeitalters gleich. Seine astronomischen Rechenverfahren
dienen bis heute zur Erstellung des Pancanga Hindu-Kalenders.So schließt
sich der Kreis mit der Zeit wieder, die im Mittelpunkt der Ausstellung
steht.
Nun nehmen wir den Faden erneut auf. Sie erinnern sich: Wir leben nach
vedischer Zeitrechnung in einem Unterzyklus des Kali-Yuga, dem eisernen
Zeitalter, das nun zu Ende geht. Was geht da zu Ende? Welche Zeit? Und:
Was ist überhaupt Zeit?
Um die Zeit, Endlichkeit und Unendlichkeit zu verstehen, verlassen wir
nun die uns fremde Welt der indischen Kosmologie.
Wir müssen uns dabei auch von den dominanten Zeitvorstellungen lösen
und phänomenologisch auf unsere Erfahrung, auf unsere Lebenswelt,
achten:
Wenden wir uns zunächst dem vorherrschenden Zeitverständnis
zu. Es ist das einer ständig fließenden und vergänglichen
Zeit, die mit unseren Uhren gemessen wird und auf die sie möglicherweise
schon ein paar Mal geschaut haben, falls ihnen dieser Vortrag wenig sagt.
Diese vergängliche Zeit ist die chronologische Zeit. Sie ist abhängig
von den regelmäßigen Bewegungen der Sterne und dem Umlauf des
Planeten Erde um die Sonne. Die chronologische Zeit ist die quantitative,
lineare, bestimmbare, datierbare, messbare und wiederholbare Dimension
der Zeit. Diese Zeit vergeht ständig und erbarmungslos im Jetzt,
zwischen dem was gerade jetzt kommt und jetzt schon nicht mehr da ist.
Mit Hilfe der Uhrzeit sind wir beispielsweise rechtzeitig zu diesem Vortrag
erschienen. Die alten Griechen haben diese Zeitvorstellung mit dem Zeit-Gott
Chronos verbunden, der meist als Greis dargestellt wird. Aber es gibt
noch eine andere Zeitqualität, eine Tiefendimension der Zeit, die
für uns relevant ist. Sie erfahren wir, wenn wir merken: Jetzt
ist der rechte Augenblick, jetzt ist etwas an der Zeit,
jetzt ereignet sich etwas noch nie dagewesenes, jetzt erscheint
ein
Zeichen der Zeit oder wenn wir Prozesse in Gang setzen brauchen
wir das richtige Timing. Diese qualitative Zeiterfahrung verknüpften
die Griechen mit dem Zeit-Gott Kairos. Er wird als nackter Jüngling
mit einer Stirnlocke und einem kahlen Hinterkopf dargestellt, als Mahnung
zur Wachsamkeit, weil man den günstigen Augenblick nicht mehr ergreifen
kann, wenn er vorübergegangen ist. Auch die Bibel übersetzt
diesen Kairos der Zeit mit der erfüllten Zeit. Die kairologische
Zeit liegt als Erfüllung der Geschichte über der chronologischen
Zeit und vollendet sie gewissermaßen.
Was bedeutet nun Zeit für uns Menschen? Menschsein wird klassisch
definiert als eine Einheit von Leib, Seele und Geist. Doch das bleibt
unbefriedigend, wenn wir das Wesen des Menschen in der Zeit bestimmen
wollen. Phänomenologisch betrachtet ist das Wesen des Menschen sein
Dasein6. Dasein ist etwas ganz anderes als Vorhandensein eines
Dinges oder eine Tatsache wie viele andere auch. Dasein ist nach Martin
Heidegger das offenständige, freie in die Welt hinausstehende Ek-sistieren
des Menschen. Als Dasein sind wir leiblich, räumlich, gestimmt, in
Beziehung, zeitlich und geschichtlich zwischen unserem Anfang der Geburt
bis zu unserem Tod, der uns als dunkles Nichts entgegentritt und ängstigt.
Konzentrieren wir uns nun auf die eine Seinsweise, die uns in dieser Ausstellung
beschäftigt: Die Zeitlichkeit unseres Daseins. Normalerweise wird
die Zeit chronologisch unterschieden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Das ist sinnvoll, insofern es sich um datierbare Ereignisse handelt, die
uns in unserer Biografie oder der Gesamtgeschichte bestimmen und geordnet
werden müssen. Aber dem liegt ein linear-chronologisches Zeitverständnis
zugrunde,
das nicht unserer Erfahrung entspricht. Das Zeitlichsein des Daseins ist
etwas anderes. Es bedeutet Offenheit für das Anwesen des Seins.
Anwesen meint hier Weilen, Verweilen, Währen und Gewähren, Walten.
Dieser Grundzug des Mensch-seins unterscheidet uns von den Tieren, die
umwelt- und instinktgebunden existieren. Das ursprüngliche Zeitphänomen
des Daseins ist also nicht seine chronologische Begrenztheit und Vergänglichkeit
sondern Offensein für das Anwesen. In diesem Anwesen erschließen
sich uns Seiendes (=Anwesendes) und wir uns selbst in der Spannweite der
Welt. Dies geschieht in drei gleich ursprünglichen Zeit-Dimensionen:
Wir können Gewesenes anwesen lassen, das behalten wurde oder in bestimmten
Situationen wieder erinnern. Auch wenn es zeitlich längst vergangen
ist, fern, verschiedenartig entzogen, verborgen, verdrängt und vergessen.
Ohne die Anwesenheit des Gewesenen zum Beispiel in Form unserer Schulbildung
könnten sie heute keinen Satz von mir verstehen. Wir können
dem Gewesenen immer auch eine neue Zukunft geben. Das ist auch der Grund,
warum wir uns von Verletzungen, die uns einmal zu einem Zeitpunkt in der
Vergangenheit passiert sind, durch unsere Auseinandersetzung mit dem Gewesenen
von ihren negativen
Folgen befreien können. Meist brauchen wir für diesen Befreiungs-Prozess
die Hilfe, die in einer guten Psychotherapie wirkt. Sigmund Freud hat
das wirkliche Anwesen des Abwesenden und längst Vergangenen als die
vom Vergänglichkeitsbewusstsein abzuhebende Zeitlosigkeit des Unbewussten
gedeutet. Ohne die Möglichkeit des Daseins zum Gewesenen neu Stellung
zu beziehen, wären traumatisierte Menschen zur Wiederholung des immer
gleichen Leidens und damit zur Unfreiheit gleichsam verdammt.
Soweit zur Macht des Gewesenen. Wir können Gegenwärtiges anwesen
lassen. Und wir können Kommendes gewärtigen. Auch das Kommende
kann unser Dasein ebenso bestimmen wie das Gewesene. Die Zeitlichkeit
des Daseins bedeutet also: Wir verhalten uns immer und notwendig aus der
uns vorgegebenen Zeit,innerhalb dieser Zeit zur Zeit. Wir bringen als
Dasein Gewesenes, Kommendes und Gegenwärtiges zusammen.
Wir können nur erwartend, deshalb behaltend, erinnernd usw. in das
Kommende und das Gewesene hineinreichen, weil das Menschsein in sich selbst
zukünftig ist und weil es dabei in der Gegenwart auf sein
Gewesenes zurückkommt und es in die Zukunft hineinnimmt.
Mein Vortrag steht unter dem Titel Vom Sinn für
das Unendliche- denn was die Indischen religiösen Traditionen,
die Künstler von GapStarPro und wir hier, die sie hier zum Philosophieren
verführt werden, eint, ist ja die Frage nach dem Sinn unseres Daseins
und seiner Zeit überhaupt. Woher also kommt die Zeit zu sein?
Dazu ein letzter Anlauf. Wir haben Zeit, wir nehmen
uns Zeit, wir teilen uns Zeit ein. Das ist unser alltäglicher Umgang
mit der Zeit, die wir als eine Ressource betrachten und von der wir als
Dauergestresste angeblich immer weniger haben. In dieser zeitökonomischen
Betrachtung, in diesem Umgehen, Handhabmachen
und Managen der Zeit, entgeht uns das ursprüngliche Phänomen
der Zeit völlig. Das ist im modernen Indien mittlerweile nicht viel
anders als bei uns in Europa der in den USA. Denn natürlich haben
wir Zeit und nehmen uns Zeit, aber das Haben und Nehmen verweist auf eine
Gabe. Uns ist Zeit gegeben.
Wir können sie nicht machen, produzieren, vermehren oder verringern.
Sondern jeden Augenblick ist uns Zeit zu sein geschenkt. Mit jedem Augenblick
fängt eine ganze Reihe neuer Möglicheiten an zu sein - angefangen
von unserer Geburt bis in den Tod. Woher kommt diese Möglichkeit?
Woher kommt diese Zeit?
Wenn wir so nach dem Ursprung fragen, sehen wir zunächst Nichts.
Es ist als ob wir in einen tiefen dunklen Brunnen blicken und die Quelle
nicht sehen können. Der Ursprung entzieht sich uns. Er ist nicht
sichtbar. Und doch ist er anwesend. Denn die Zeit kommt ja aus dieser
Quelle, die sich uns zunächst als Nichts zeigt. Ob dieses Nichts
ein positives oder ein negatives Phänomen ist, können wir an
dieser Stelle noch nicht entscheiden.
Meinem heute 84jähriger Philosophielehrer Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld
verdanke ich nicht nur die Einführung in das Abenteuer des Denkens,
sondern auch folgenden uns weiterführenden Gedanken Zitat:
Wir verdanken alle Zeit einem Geben, das sich zugunsten der Vernehmbarkeit
der Gabe verbirgt. Wir erfahren zwar in diesem Sich-Verbergen den Ursprung
und die Herkunft unseres Seins in der Zeit. Doch was wir erblicken, wenn
wir nach Ursprung und Herkunft unseres Seins fragen, das zeigt sich uns
phänomenal als Nichts: Das Nichts des Anfangs unseres Daseins.
Zitat Ende.
Das Nichts, aus dem die Zeit entspringt ist dasselbe Nichts unseres Endes,
sowie wir auch aus dem Nichts angefangen haben zu sein. Die Zeit, Anfang
und Ende, Herkunft und Zukunft, Gewesenes und Kommendes gehören also
zusammen. Wir stehen also von Anfang unseres Lebens an in einem Bezug
zum Nichts. Wenn uns das eigene Dasein, das eigene Anwesen bewusst wird,
zeigt sich, dass uns unser Sein in jedem Augenblick ereignishaft geschenkt
ist. Natürlich müssen wir vieles zu den Bedingungen der Möglichkeit
des Lebens selbst beitragen. Wir essen, trinken, lernen, arbeiten, lieben
und genießen. Aber dass wir das überhaupt können, dass
wir überhaupt sind, das ist etwas, was wir nicht gemacht haben. Wir
sind zwar eigenständige Wesen aber auch die Möglichkeit
unserer Selbständigkeit ist uns geschenkt. Wenn wir uns in diese
Erfahrung zurückrufen lassen durch Wahrnehmung oder Meditation, wird
deutlich, dass dieses Nichts kein negatives Phänomen ist, kein nichtiges
und kein vernichtendes Nichts, das uns Angst machen müsste. Denn
so gesehen ist dieses Nichts ein freigebendes, gewährendes Nichts.
In diesem Nichts, aus dem Sein und Zeit ereignishaft geschenkt ist, waltet
ein unendlicher Ursprung, der sich anwesend-abwesend entzieht. Diese Quelle,
die sich in allen Kulturen besonders in der indischen vielgestaltig
manifestiert und von Menschen verbildlicht wird, diese geheimnisvolle
Quelle nennen und verehren die Religionen der Welt als Gott, Götter
oder das Göttliche.
Der nordindische Dichter und Mystiker Kabir lebte im
15.Jahrhundert in Varanasi. Er war von Beruf Weber und hatte eine Familie.
Kabir hat dazu ein vielsagendes Gedicht verfasst. Er hatte eine Abneigung
gegen die institutionalisierte Religion im Hinduismus,
wandte sich gegen die Macht der Hindu-Priester und gegen die übertriebene
Askese der Yogis. Deshalb wurde er vom Hindu-Klerus
auch aus seiner Heimatstadt Varanasi vertrieben. Sein Gedicht beginnt
folgendermaßen:
Oh Diener, wo suchst du Mich?
Sieh doch! Ich stehe neben dir.
Weder in Tempeln noch in Moscheen wohne Ich.
Weder in der Kaaba noch auf dem Kailash.
Weder in Riten noch in Zeremonien,
noch in Yoga oder Entsagung.
Wenn Du mich wahrhaft suchst,
wirst du Mich sofort erblicken:
Wirst mich treffen im Nu.
Kabir sagt: Oh Sadhu!
Gott ist der Atem in allem Atem.7
Was heißt das Ereignis der Gabe von Sein und Zeit konkret für
unser Dasein?
Auf die Gabe von Sein und Zeit kann natürlich jeder
so oder so antworten. Jene, die aus der Seinsvergessenheit erwachen
Buddha sprach von Verblendung werden vermutlich mit Dankbarkeit
antworten. Dankbarkeit ist im Übrigen wohl das basale
verbindende Element aller Weltreligionen. Dankbarkeit ist der Schlüssel
zur Lebensfreude. Das sieht man in Umkehrung bei Menschen, die alles in
ihrem Leben haben, was sie brauchen, aber dennoch nicht glücklich
sind damit. Sie glauben, dass ihr Leben das Selbstverständlichste
ist. Ihnen fehlt die Erfahrung und das Motiv für die Dankbarkeit.
Stattdessen wollen sie ständig etwas Anderes, Besseres, Größeres
oder einfach mehr sie bleiben dadurch in dem Leidenszirkel von Gier,
Neid und Verblendung gefangen, den Gautama Buddha überwinden wollte.
Andere wiederum haben ein schweres Schicksal oder leben unter großen
Entbehrungen, sind aber trotzdem froh, weil sie dankbar sind.
Manchmal fällt es schwer dankbar zu leben. Speziell dann, wenn man
mit Gewalt, Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg
konfrontiert ist, oder wenn man mit schweren Krankheiten oder Unglück
zu leben hat. Doch selbst in solchen Situationen, in denen man mit Bösem
konfrontiert ist, kann man zumindest für die Gelegenheit dankbar
sein, sich dagegen zu stellen. Immerhin kann man sich bemühen, das
Böse durch das Gute zu überwinden. Auch die Kräfte des
Guten sind einem geschenkt. Unsere Welt bewegt sich durch Gier, Neid und
Verblendung am Rande des Abgrunds. Es gab wohl noch keine Epoche, in der
die globalen multiplen Krisen einer so großen Anzahl an Menschen
deutlich geworden sind. Die Gegenkräfte dazu sind Dankbarkeit, Gerechtigkeit
und Liebe.
Sie zu verwirklichen auch gegen gewaltige Widerstände
dazu wird es Menschen brauchen, die nicht aus Ressentiment und Hass handeln,
sondern dankbar leben und aus der Freude agieren.
Ich habe heute einen großen Bogen gespannt: über
die Kunst zu Wort und Schrift, über die indische Mathematik zur vedischen
Kosmologie, über die Zeit zur Erfahrung der Gabe und zur Dankbarkeit.
In allem ist der Sinn für das Unendliche zu finden.
Doch am schönsten und berührendsten tritt er uns in der Kunst
entgegen. Hier wieder in Form eines Gedichtes von Kabir,
mit dem ich viel heute ungesagt Bleibendes abschließen möchte.
Kabir erwägt und sagt: Jener,
der weder Kaste noch Heimat besitzt,
der ohne Form und Eigenschaft ist,
erfüllt das All.
Der Schöpfer erschuf das Spiel der Freude:
Und vom Worte OM entsprang die Schöpfung.
Die Erde ist Seine Freude; Seine Freude ist der Himmel;
Seine Freude ist das Leuchten der Sonne und des Mondes;
Seine Freude ist der Anfang, die Mitte und das Ende.
Seine Freude ist Augen, Dunkel und Licht.
Meere und Wellen sind Seine Freude: Seine Freude
Die Saraswati, die Jamuna und die Ganga.
Der Guru ist Eins: und Leben und Tod,
Verenigung und Trennung sind alle Seine Spiele der Freude!
Sein Spiel das Land und Wasser, das ganze Universum!
Sein Spiel die Erde und der Himmel!
Spielend wurde die Schöpfung entfaltet,
spielend erbaut.
Die Ganze Welt, sagt Kabir, ruht in Seinem Spiel,
und doch, der Spieler bleibt unerkannt.
LITERATUR
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag
Tübingen 1984
Martin Heidegger, LOGOS (Heraklit Fragment 50) in: Vorträge
und Aufsätze, Neske verlag Pfullingen 1978
Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, Ursprüngliche
Erfahrung und personales Sein.
Ausgewählte philosophische Schriften I+II, Verlag Böhlau Wien
1997
Karl Baier, Meditation und Moderne Band 1+2, Verlag
Königshausen & Neumann Würzburg 2009
Karl Baier und Markus Riedenauer (Hrsg.), Die Spannweite
des Daseins. Philosophie, Theologie,
Psychotherapie und Religionswissenschaft im Gespräch, Vienna University
Press 2011
Martin Kämpchen (Hrsg.), Krishnas Flöte. Religiöse
Liebeslyrik aus Indien; Herder Verlag Freiburg 2002
Das Indien der Maharadschas. Begleitkatalog zur Ausstellung,
Hrsg.v. Schallaburg Betriebsgesellschaft,
Redaktion Matthias Pfaffenbichler, 2013
www.daseinsanalyse.at
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